Ausgehend von strukturellen Problemen der „Staatsbürger in Uniform“ über den viel zitierten „Spiegel der Gesellschaft“ bis hin zum Totschlag-Argument des „Generalverdachts“. Ein Gedankenspaziergang.
Seit knapp drei Wochen tun sie es jetzt schon. Seit drei Wochen gehen Menschen in den USA zu Tausenden für Gerechtigkeit und gegen rassistische Polizeigewalt auf die Straße. Wir alle haben die Bilder der demonstrierenden Menschenmassen vor Augen – so sehr offenbar, dass viele Medien es nicht mehr für nötig zu halten scheinen, uns diese Szenen auch weiterhin zu zeigen. Das Abebben der Bilderflut von protestierenden US-Bürger*innen und ihren Stand-Offs mit bis an die Zähne bewaffneten Polizeitruppen im Paramilitär-Chique korrespondiert jedenfalls nicht mit einem defakto Abebben der eigentlichen Proteste. Das gibt es bislang nämlich nicht.
Das Ende der Einzelfälle?
Die Aufmerksamkeit der US-amerkianischen Medien hat sich allerdings nicht einfach wieder dem Alltagsgeschäft gewidmet. Nach wie vor dominieren die Black Lives Matter Bewegung, Polizeigewalt und vor allem das Thema Rassismus die Nachrichtenlage. Und nicht nur das! Von der NFL bis hin zu NASCAR – mit zunehmender Geschwindigkeit melden sich Unternehmen, Verbände und Organisationen zu Wort mit öffentlichen Statements gegen Rassismus. Nicht ohne eine gewisse Ironie scheint sich eine wirkliche Chance auf einen konstruktiven gesellschaftlichen Dialog aufzutun – ob trotz oder vielleicht sogar wegen eines von Law und Order schwadronierenden Präsidenten, der sich in seinem zur Festung umfunktionierten Regierungssitz verschanzt hat und ansonsten mit Konstruktivität geizt, bleibt fürs Erste offen.
Ganz anders jedenfalls hierzulande: Nach den bundesweiten, antirassistischen Protesten vom 6. Juni, die wahrscheinlich größten zu diesem Thema in der Geschichte der BRD wohlgemerkt – allein in Osnabrück demonstrierten bis zu 3.000 Menschen im Schlossgarten, ist es zügig wieder ruhig geworden. Nach gefühlten anderthalb Tagen öffentlicher Debatte über strukturelle Probleme der Polizeiarbeit und rassistische Behördenpraxis sind nahezu alle wieder zur „Einzelfall“-Normalität zurückgekehrt. Die SPD-Bundesvorsitzende Saskia Esken ist nicht zuletzt deshalb das derzeitige Ziel harscher Kritik, weil sie sich als eine von wenigen nicht daran zu halten scheinen will.
Das große Abwiegeln
Boris Pistorius, Osnabrücks ehemaliger OB und jetziger Innenminister Niedersachsens war einer der lautesten Partei-Kolleg*innen Eskens, die sich mit zur Schau gestellter Entrüstung in Reaktion auf ihre Äußerung über ein latentes Rassismusproblem innerhalb der Polizei überschlugen. Er mag sich in der Rolle des beschützenden Dienstherren sehen, in Wirklichkeit tut er aber auch nur wieder dasselbe, wie so viele vor ihm – und wehrt pauschal jegliche Auseinandersetzung mit diesem drängenden Thema ab.
Das ist wie gesagt nichts neues, aber es ist jedes Mal ungeheuer schade. Von zivilgesellschaftlichen Akteuren gab es bereits zahlreiche Initiativen, den gesellschaftlichen Diskurs in Gang zu setzen, doch es scheitert jedes Mal am Engagement der staatlichen Seite. Besonders schade ist außerdem, dass bislang so wenig zu hören war von Seiten derjenigen, über die hier gesprochen wird. Was ist eigentlich mit kritischen Stimmen innerhalb der Sicherheitsbehörden? Schauen wir zum Beispiel auf Dietmar Schilff, den niedersächsischen Vorsitzenden der Gewerkschaft der Polizei (GdP). Die GdP ist Teil des DGB, also eines Verbands, der sich dezidiert gegen Rassismus und Faschismus in seinen Statuten positioniert und dessen andere Mitgliedsgewerkschaften für gewöhnlich zu den eher progressiveren unter den öffentlichen Stimmen gehören.
Schilff geht da aber andere Wege und sieht „keinen Anlass einen Zusammenhang mit dem Tötungsdelikt in den USA und der deutschen Polizei zu konstruieren“. Was angesichts des Auslösers der Proteste, dem Mord an George Floyd, auch sicherlich richtig ist. Für seinen Tod trägt die deutsche Polizei keinerlei Verantwortung.
Polizeigewalt ist Alltag
Doch hätte Schilff mal besser mit einem seiner Mitglieder gesprochen, bevor er sich an die Öffentlichkeit wandte – vorzugsweise mit einem Mitglied, das zur Begleitung einer der zahlreichen Protestaktionen und Mahnwachen eingesetzt war, die von vor allem jungen Afrodeutschen und PoC organisiert worden waren. Denn wenn etwas charakteristisch für diese öffentlichen Zusammenkünfte war, dann die emotionalen Berichte über Erfahrungen mit rassistischer Willkür und gewalttätiger Staatsmacht, vorgetragen aus erster Hand, nicht selten mit stockender Stimme und unter Tränen – während es unter den Zuhörenden betreten still wurde.
Schilff hätte sich also erklären lassen können, dass rassistische Polizeigewalt und behördliche Willkür gerade im Umgang mit Nichtweißen auch in der Bundesrepublik zur Tagesordnung gehören – was tragischerweise gerade erst wieder zu beobachten war: eine schwarze Frau rief die Polizei in eine Rossmann-Filiale, da sie vom dortigen Personal rassistisch beleidigt worden war – nur damit sie anschließend mit einem der beiden leidlich spät eintreffenden Ordnungshütern die selbe Erfahrung machen durfte (und sein Kollege natürlich nicht eingriff).
Okay, da ging es jetzt „nur“ um rassistische Klischees eines Polizisten, könnte eingeworfen werden. Zwischen einem genervt-rassistischen Polizeibeamten und einer rassistischen Exekution auf offener Straße liegen doch Welten! Ein genauerer Blick ins Thema offenbart allerdings auch hierzulande das tödliche Ausmaß, dass institutioneller Rassismus erreichen kann – und es wesentlich öfter auch tut, als gemeinhin angenommen wird. Oury Jalloh, der 2005 in einer Zelle der Dessauer Polizei verbrannte, ist hier wohl der bekannteste Name, andere Namen von Menschen, die in Polizeigewahrsam unter dubiosen Umständen zu Tode kamen, sind beispielsweise Rooble Warsame oder William Tonou-Mbobda (beides Fälle von 2019). Es gibt erschreckend viele von ihnen. Die Initiative Death in Custody hat bislang 159 Fälle seit 1990 zusammengetragen, 159 Opfer also in 30 Jahren, das sind mehr als 5 Tote in deutschem Polizeigewahrsam pro Jahr. Einige der Opfer blieben bis heute namenlos, so wenig öffentliches Interesse zogen ihre Tode auf sich.
Wir lernen also: Es wäre gar nicht so schwer für Herrn Schilff gewesen, mit ein wenig Recherche eine Aussage zu treffen, die etwas mehr mit der Realität zu tun gehabt hätte. Oder anders formuliert, lässt Schilffs allzu durchschaubarer Versuch einer pauschalen Abwehr des Themas ihn in seiner Rolle als Gewerkschafter unglaubwürdig erscheinen – vielleicht wäre er im Vorstand eines Fanclubs besser aufgehoben. Um mal ein Gefühl für die Verhältnismäßigkeit zu bekommen: Wäre es etwa die Aufgabe von Ver.di, im Falle der unter Mordverdacht stehenden Erzieherin aus Viersen, nun eine Anklage der Beschuldigten zu verhindern? Sicherlich nicht. Im Gegenteil, in der sich nun entspinnenden Debatte über eventuell nötige Nachbesserungen in der Erzieherinnen-Ausbildung, die bessere Früherkennung von problematischen Persönlichkeiten ermöglichen sollen, sind Gewerkschaften als professionelle Verbände miteinbezogen.
Demokratische Repräsentanz undemokratischer Strukturen?
Es wäre wünschenswert, dass auch die GdP Konstruktiveres zur Debatte beisteuern würde. Dahinter steht sicherlich die Hoffnung, dass die Mitglieder einer wie gesagt nominell antifaschistischen Gewerkschaft eben zu den „Good Cops“ gehörten, die so oft beschworen werden. Allerdings stellt sich dann schnell wieder die Ahnung ein, dass es in einer mehr oder weniger hermetisch abgeriegelten Institution, die Korpsgeist und Gehorsam weit über andere Tugenden idealisiert, am Ende des Tages sehr wenig Platz für den „Staatsbürgers in Uniform“ geben dürfte.
Das Bild bestätigt sich, nehmen wir neben der GdP auch noch ihr politisch klar rechtes Pendant zu dieser Betrachtung hinzu. Die Rede ist natürlich von der Deutschen Polizeigewerkschaft (DpolG) unter ihrem Anführer Rainer Wendt, der für seine neurechten bis rechtsextremen Aussagen und Sarrazin-esken Schriften bekannt ist. Angesichts der Maximal-Abwehr von Seiten der Konkurrenz verstieg er sich – vielleicht aus Not zur Abgrenzung – dazu, der deutschen Polizei gar weniger Rassismus zu attestieren, als der deutschen Gesellschaft insgesamt.
Soviel zum Thema, die Polizei sei ein Spiegelbild jener Gesellschaft. Offenbar gibt es da ein ganz klares, moralisches Gefälle in den Augen eines Wendts. Eine wahrlich sprachlos machende Aussage, angesichts einer langen Liste von Naziumtrieben von Polizist*innen, die sich zudem seit Jahren immer weiter verlängert. Leider fällt diese Aussage wie eingangs angesprochen auf fruchtbaren Boden, wie sich im Falle des Backlash gegen Esken zeigt. Statt sich auf eine differenzierte Debatte einzulassen, werden Totschlag-Argumente wie „Generalverdacht“ und „generelles Misstrauen“ bemüht.
In diesem Punkt treffen sich dann übrigens auch GdP und DpolG ganz offen – etwa wenn sie sich derzeit medial damit brüsten, gegen die taz Strafanzeige zu stellen, weil sie es gewagt hatte, eine Kolumne von Hengameh Yaghoobifarah zu veröffentlichen, in der sie die Sinnhaftigkeit der Institution Polizei an sich und die Folgen ihrer hypothetischen Abschaffung im Stil einer Glosse diskutiert – und dabei am Schluss Polizist*innen mit Abfall vergleicht. Was zunächst diskutabel erscheint, dürfte durchaus durch künsterlische bzw. die Pressefreiheit abgedeckt sein. Trotzdem geben sich Polizeivertreter*innen lieber kindisch beleidigt und drohen mit juristischen Repressalien. Differenzierung wird bei der Polizei nunmal groß geschrieben, nicht auszudenken, würde dort ähnlich fahrlässig generalisiert werden. Etwa mit einem Begriff, der einen Hang zur Kriminalität aufgrund bestimmter äußerer Merkmale unterstellte. Keine Ahnung allerdings, warum mir gerade jetzt die Begriffe „Nafri“ oder „Döner-Morde“ in den Sinn kommen.
Echte Veränderung braucht langen Atem
Angesichts dieses behördlichen Gezeters kommen wir wohl um eine unliebsame Wahrheit nicht herum: Wir haben noch einen langen, langen Weg vor uns, bis wir wirkliche Veränderung erreicht haben werden. Und die beginnt bekanntlich von innen. Doch für Sicherheitsbehörden mit toxischen Innen-Kulturen scheint dies nicht zu stimmen. Dort muss sie höchstwahrscheinlich vor allem von außen kommen. In den USA sind nun erste, mutige Stadtparlamente und Bundesstaaten daran, ganze Polizeieinheiten aufzulösen und neu zu gründen – mancherorts wird gar das Konzept des „Policing“ generell auf den Prüfstand gestellt. Dabei ist eine Sache deutlich geworden: Ohne permanenten, öffentlichen Druck wäre das nicht passiert. Und damit ist nicht nur der lautstarke Protest gemeint, der sicherlich von zentraler Bedeutung ist. Er ist zugleich Ausdruck und Motor eines handfesten sozialen Wandels in der US-amerikanischen Gesellschaft, der sich u.a. auch daran ablesen lässt, dass Bücher über Rassismus, Anleitungen zum Antirassismus und persönliche Erfahrungsberichte von Opfern von Rassismus zu den Bestsellern gehören – und teils sogar vergriffen sind.
Wieder übertragen zurück auf die hiesige Situation ist es also jetzt an uns, uns selbst zu bilden und uns mit dem Thema zu befassen. Ein guter Startpunkt ist z.B. das Buch „Exit Racism“ von Tupoka Ogette, das derzeit in seiner Hörbuchfassung auf Spotify trendet – und neben anderen guten Empfehlungen auch in dieser hilfreichen Bücherliste aufgeführt ist. Setzen wir uns auseinander mit dem Thema – einzeln im Alltag sowie als Gesellschaft insgesamt. Zeigen wir Politik und Behörden, dass wir uns mit durchschaubaren Ausreden und Whataboutism nicht abspeisen lassen. Dafür ist das Thema zu wichtig!